25 Dezember 2005

Last Christmas Paranoia - Eine kleine Satire


Es ist Samstag. Mein Radiowecker wham't mich mit "Last Christmas I ..."aus dem Land der Träume. Ich fühle mich wie Bill Murray in "Und täglich grüßt das Murmeltier", denn seit nunmehr zwei Wochen reiße ich völlig entnervt zu "Last Christmas...düdeldüdeldü" meine Augen auf, gefolgt von einem Tobsuchtsanfall und mehreren Flüchen auf Deutschland's Radiolandschaft. Es grenzt schon an ein Wunder, daß mein Wecker diese auditiven Attacken auf mein so empfindsames Gemüt stets schadlos überlebt hat. Nichts desto trotz, die morgendliche Schrecksekunde im Radio hat ihren Dienst getan: Ich bin hellwach!
Langsam verfliegt auch der kurze Anflug übler Laune und begebe mich ins Badezimmer zur Morgenkosmetik. Ich schalte zum Zähneputzen das Radio im Badezimmer ein und oh no...not again düdeldüdeldü "George Michael is mir doch wurscht mit wem Du an Christmas..." Shiiiiit Christmas...überkommt es mich plötzlich, als ich mich selbst dabei ertappe das Badezimmerradio die Toilette runterspühlen zu wollen... Die Weihnachtszeit, das Fest der Liebe, steht vor der Tür und ich habe noch keinerlei Weihnachtseinkäufe getätigt!!! Neeeeeiiiin!!... Muss ich mich jetzt mal wieder last-minute durch die Münchner Innenstadt auf der Suche nach passenden Geschenken für meine Liebsten kämpfen? Meine Augen fangen vor Nervosität in bester Didi Hamann' Manier an zu zucken, meine Nackenmuskulatur verkrampft. "Nein Maurizio, auch das kann Deiner guten Laune heute nicht schaden", meldet sich mein Unterbewusstsein zu Wort. Also gut, ein Mann ein Wort, den Plan heute mal zu chillen habe ich daher umgehendst verworfen und durch weihnachtlichen Konsumrausch substituiert. Voller Elan und Tatendrang (ich freute mich durchaus auf den obligatorischen Kinderpunsch am Christkindelmarkt) beschließe ich daher die schützenden vier Wände meines heimischen Refugiums zu verlassen. Ich laufe zur U-Bahn. Es fröstelt, was meiner noch guten Laune keinen Abbruch tut, ich pfeife ein Lied ("Such a perfect day" von Lou Reed) und beobachte dabei den durch die klirrende Kälte hervorgerufenen Atemdampf vor meinem Gesicht. Nach 10 min Kälteschock erreiche ich endlich die rettende U-Bahn Station Thalkirchen und eile die wenigen Stufen hinab (keuch). Im Untergrund angekommen und auf die U3 wartend schlage ich mir auf die Stirn. Shit! Habe ich doch in der Eile und Euphorie meinen iPod vergessen! Na was solls...schon spüre ich den Wind des heranrauschenden Zuges. Ich steige ein und suche mir einen freien Fensterplatz (weniger um die schöne Aussicht zu genießen, sondern da es der einzige Ort ist, an dem man durch einen kleinen Fensterspalt die gute Tunnelluft atmen kann), schlüpfe daher an ein paar älteren Damen vorbei und setze mich. ...Fahrstuhlatmosphäre... Niemand wagt es zu reden. Trübe Gesichter mit störrischem, fast schon grantigem Gesichtsausdruck. Alle starren beschämt an die Decke oder aus dem Fenster (ein weiterer Grund für meine Platzwahl). Jetzt bloß niemanden anschauen...oder anquatschen... . Manch einer war da weniger vergesslich und beschallt seine Ohren (manch anderer auch das ganze Abteil) mit Musik. Andere wiederum haben sich zuvor in weiser Voraussicht am Kiosk eine Zeitung gekauft, diese nun großflächig aufgeschlagen, weil man sich dahinter so großartig verstecken kann. So auch meine zwei Gegenüber, mit Bild und tz in meiner Augenhöhe bewaffnet, was mir aber ganz gelegen kommt. Ich versuche etwas Information zu erhaschen, was aber kläglich scheitert, weil keine Brille auf (ich bin kurzsichtig). Shit! Ich ergötze mich wenigstens kurz an Lola, dem leicht bekleideten Bild-Seite 1 Girl, welche sich, so steht es geschrieben, ein Christkind von Robbie Williams wünscht.
Poccistraße, die U-Bahn füllt sich mich noch mehr gestressten Menschen. "Zurückbleiben bitte" schallt es aus dem Lautsprecher. Den bis dato noch freien Platz neben mir nimmt ein junges Mädchen ein. Alle Schlagzeilen zur Kenntnis genommen starre ich wieder aus dem Fenster und versinke in Gedanken.
Unsanft werde ich meiner Gedankenwelt entrissen...Bitte nicht...das darf doch nicht wahr sein! Das Mädel neben mir summt ein Lied. Ratet mal welches?!
Es läuft mir eiskalt den Rücken runter. In meinem Kopf leuten die Alarmglocken. Ich muss hier schleunigst raus, bevor mir noch die Luft wegbleibt.
Endlich die rettende Durchsage "Nächster Halt, Marienplatz". Ich kämpfe mich aus der U-Bahn ans Tageslicht. Jeglicher guter Vorsatz hat sich mittlerweile verabschiedet. Wie meine Umwelt, so bin auch ich mittlerweile vollkommen entnervt und das obwohl ich noch nicht ein passendes Geschenk gefunden habe.
"Heute scheint einfach nicht Dein Tag zu sein Maurizio" meldet sich mahnend mein Verstand zu Wort. Orientierungs- und Ziellos schwimme ich in der grauen Suppe all jener verzweifelten Last-Minute Shopper umher. Um diesem Strom an gefrusteten Menschen zu entkommen und um wieder klare Gedanken fassen zu können rette ich mich in eine kleine, weniger frequentierte Seitenstrasse.
Ich stolpere am Schaufenster eines kleinen Buchladens vorbei und bleibe vor der verstaubten und vereisten Scheibe stehen. Meine Augen fixieren unmittelbar eine dort ausgestellte Ausgabe des Satireblattes "Simplicissimus". Erinnerungen an meine Schulzeit werden wach. Ich muss spontan an meine Deutschlehrerin denken, vor Allem daran wie Sie immer die Hände über dem Kopf zusammenschlug wenn ich einen kläglichen Versuch unternahm Gedichte zu analysieren, aber auch an das Glitzern in Ihren Augen als ich den entsetzten Eltern auf einem der schulischen Theaterabende, ohne Vorankündigung, spontan folgendes Gedicht von Kurt Tucholsky (a.k.a Kaspar Hauser, Peter Panter, Theobald Tiger und Ignaz Wrobel) vortrug:

"O hochverehrtes Publikum,
sag mal: bist du wirklich so dumm,
wie uns das an allen Tagen
alle Unternehmer sagen?
Jeder Direktor mit dickem Popo
spricht: "Das Publikum will es so!"
Jeder Filmfritze sagt: "Was soll ich machen?
Das Publikum wünscht diese zuckrigen Sachen!"
Jeder Verleger zuckt die Achseln und spricht:
"Gute Bücher gehen eben nicht!"

Sag mal, verehrtes Publikum:
bist du wirklich so dumm?

So dumm, daß in Zeitungen, früh oder spät, immer weniger zu lesen steht?
Aus lauter Furcht, du könntest verletzt sein;
aus lauter Angst, es soll niemand verhetzt sein;
aus lauter Besorgnis, Müller und Cohn
könnten mit Abbestellung drohn?
Aus Bangigkeit, es käme am Ende
einer der zahlreichen Reichsverbände
und protestierte und denunzierte
und demonstrierte und prozessierte ...

Sag mal, verehrtes Publikum:
bist du wirklich so dumm?

Ja, dann ...
Es lastet auf dieser Zeit
der Fluch der Mittelmäßigkeit.
Hast du so einen schwachen Magen?
Kannst du keine Wahrheit vertragen?
Bist du also nur ein Griessbrei-Fresser?
Ja, dann ...
Ja, dann verdienst du’s nicht besser."

(Kurt Tucholsky 1931)

Eben dieser Kurt Tucholsky schrieb einst:
"Der Satiriker ist ein gekränkter Idealist:
Er will die Welt gut haben, sie ist schlecht,
und nun rennt er gegen das Schlechte an."
Ich stehe jedenfalls immer noch vor dem Buchladen in der klirrenden Kälte und denke: „Was machst Du hier eigentlich?“
"Die wahren Werte des Festes der Liebe sind verloren gegangen. Gut erkannt. Aber dagegen anzurennen? Neeee, nicht mit mir!
Ich beschließe mich dieses Jahr dem gezwungenen Konsumrausch zu entziehen.
Flucht, Rückzug? Ja, und wie! Aber mit wehenden Fahnen...
Ich schreie auf „Dieses Jahr gibt es nur Liebe – All you need is love!“ Verstörte Menschen drehen sich nach mir um und schütteln den Kopf. Mich kümmert es nicht, denn:
Was darf die Satire?
Alles!
Sorry George Michael. Danke Kurt.
Ich springe in ein Taxi und lasse mich zurück in meine beschützenden vier Wände chauffieren, öffne eine Flasche Brunello di Montalcino und erhole mich im Sinne des 'gekränkten Idealisten' von meiner Flucht.

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